WINDELFREI in anderen Kulturen
Around the world
Eine Entdeckungsreise in die Welt der natürlichen Säuglingspflege
Windelfrei? Das ist doch neumodischer Quatsch. Das haben sich doch Dinkel-Dörte und Bio-Brigitte bloß ausgedacht, um wieder schön im Fokus der Aufmerksamkeit stehen und die anderen Eltern in schlechtes Licht rücken zu können.
Die Idee, Babys ohne den Gebrauch von Windeln aufzuziehen, mag in unseren modernen westlichen Gesellschaften neu erscheinen, aber in vielen Kulturen auf der ganzen Welt ist dies seit Jahrhunderten eine praktizierte Methode. Fragst du Oma und Opa oder andere Menschen aus der Generation, ist ihnen das durchaus oft noch ein Begriff. Diese Art der Säuglingspflege wird als Windelfrei oder Elimination Communication (EC) bezeichnet und basiert auf der Grundlage, dass Babys von Geburt an in der Lage sind, ihre Bedürfnisse in Bezug auf Ausscheidungen zu kommunizieren.
Lass uns doch mal gemeinsam in die Welt schauen:
Es ist faszinierend, wenn man bedenkt, dass der Mensch als lebendiges Wesen schon seit Tausenden von Jahren auf der Erde wandelt, sich fortpflanzt und ständig neue kleine Menschen entstehen und aufgezogen werden, während die Idee der Einwegwindel eine vergleichsweise moderne Entwicklung ist. Die Innovation der Einwegwindel, wie wir sie heute kennen, begann nämlich erst ca. in der Mitte des 20. Jahrhundert, als Technologien zur Herstellung von absorbierenden Materialien usw. entstanden.
Vorher wickelte man Kinder mit Wolle, Tüchern und Bändern und nutzte als Saugmaterial Heu, Stroh und Moos. Die Entwicklung der Wegwerfwindel brachte zweifellos eine gewisse Bequemlichkeit mit sich, führte aber auch zu einem signifikanten Anstieg des Abfallaufkommens und Umweltbelastungen sowie Krankheiten, die in Verbindung mit dem Tragen von Einwegwindeln zu verzeichnen sind. Im Gegensatz dazu spiegeln die traditionellen windelfreien Praktiken in verschiedenen Kulturen ein tieferes Verständnis für die Bedürfnisse von Babys und eine nachhaltigere Lebensweise wider.
Die Windelfrei-Praktiken, die in verschiedenen Kulturen über viele Generationen hinweg gepflegt wurden und werden, zeigen, dass es alternative Wege gibt, die nicht nur effektiv sind, sondern auch eine reichhaltige elterliche Bindung fördern und ökologisch verantwortungsvoll sind.
China: Die Tradition der Schlitzhosen
In China trägt man keine Windeln?! In vielen Gebieten Chinas war und ist bis heute zum Großteil die Verwendung von Windeln traditionell tatsächlich nicht üblich. Stattdessen benutzen Eltern sogenannte „Kaidangku“, eine Hose mit einem Schlitz im Schritt, sodass die Kinder schnell und selbstständig ausscheiden können (vgl. Wikipedia, „Open-crotch pants“, 2024)¹. Diese Praxis ist nicht nur praktisch, sondern auch eine natürliche Art der Kommunikation zwischen Eltern und Kind. Eltern achten auf Signale wie Unruhe oder eine bestimmte Körperhaltung des Babys, um zu erkennen, dass es Zeit ist, es über einem geeigneten Ort abzuhalten (Wang et al. 2019)2 oder das Kind erleichtert sich durch den Schlitz in der Hose ganz einfach selbstständig.
Afrika: Windelfreie Praktiken in verschiedenen Regionen
Afrikanische Gemeinschaften haben oft ihre eigenen traditionellen Methoden, um mit den Bedürfnissen von Säuglingen umzugehen, ohne auf moderne Windeln zurückzugreifen. Zum Beispiel würden einige Gruppen in Westafrika wie die Himba in Namibia und die Khoisan in Südafrika Techniken verwenden, um die Bedürfnisse ihrer Babys zu antizipieren und rechtzeitig zu reagieren. Dies würde oft das Halten des Babys in einer speziellen Position über einem Töpfchen oder einem ausgewählten Ort im Freien beinhalten, um Ausscheidungen aufzufangen und sich nicht zu beschmutzen. Diese Praktiken sind nicht nur effektiv, sondern fördern auch eine starke elterliche Bindung und verbessern das Verständnis für die Signale des Babys.
In „TopfFit!“ von Laurie Boucke wird eine Studie des Dr. Marten deVries beschrieben, der Familien mit Babys des Digo-Stammes in Kenia beobachtet habe, die bereits ab einem Alter von zwei bis drei Wochen ins TöpfchenTeamwork eingestiegen seien3 (vgl. Laurie Boucke, TopfFit!, 2004, S. 97ff.). Auch Ingrid Bauer geht in ihrem Buch auf die deVries-Studie ein. „Bei ihrem interkulturellen Vergleich kommen Marten und Rachel deVries zu dem Schluss, dass die Sauberkeitsbereitschaft mehr von soziokulturellen Faktoren abhängt als von psychologischer oder neurologischer Reife“ und „Im Hinblick [auf das TöpfchenTeamwork], so […] deVries, ’sollte die Erklärung, die Reife des Kindes sei für die erfolgreiche Sauberkeit verantwortlich, neu überdacht werden.'“ 4 (s. Ingrid Bauer, Es geht auch ohne Windeln!, 2001, S. 86f.).
Indigene Völker: Natürliche Bindungen zwischen Eltern und Kindern
Indigene Gemeinschaften auf der ganzen Welt praktizieren ähnliche windelfreie Methoden. Die uns bekannten Einwegwindeln und das Konzept „Alle Ausscheidungen gehen in die Windel“ findet man dort nicht. Zum Beispiel sollen die Inuit in Nordamerika traditionell widerverwendbare Windeln und Unterlagen aus Moos oder Tierfellen verwenden bzw. verwendet haben, um die Ausscheidungen ihrer Babys aufzufangen. „Das Volk der Inuit […] im heutigen Kanada und Norden Amerikas erfüllte die Ausscheidungsbedürfnisse eines Kindes von Geburt an, trotz harter Lebensbedingungen und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt.“5 (s. Ingrid Bauer, Es geht auch ohne Windeln! S.83). Ähnliche Praktiken würden auch bei einigen Stämmen in Lateinamerika und Australien beobachtet, wo die Verbindung zwischen Eltern und Kindern durch die direkte Kommunikation über die natürlichen Bedürfnisse gestärkt würde. Dadurch, dass die Babys sich meist in engem Körperkontakt mit den Bezugspersonen befinden würden, entwickele sich das Abhalten quasi zum „Selbstläufer“ und das Timing dazu zur Intuition. Diese Praktiken seien nicht nur effektiv in der Säuglingspflege, sondern auch ein kulturelles Erbe, das die Übertragung von Wissen und Traditionen innerhalb der Gemeinschaft fördere (vgl. I. Bauer 2006).
Europa und der Westen: Wiederaufleben der windelfreien Praxis
In den letzten Jahrzehnten hat sich auch in modernen westlichen Gesellschaften wieder ein vermehrtes Interesse an windelfreier Erziehung entwickelt. Dies ist oft eine Reaktion auf Umweltbedenken bezüglich Wegwerfwindeln, Vorbeugen von Krankheiten wie Drei-Monats-Koliken oder Windeldermatitis sowie das Bedürfnis nach einer engeren Bindung zwischen Eltern und Kindern.
Viele Eltern nutzen heute den Windelfrei-Ansatz, um die Signale ihrer Babys generell besser zu verstehen und auf sie reagieren zu können. Das Konzept der Windelfreiheit hat inzwischen auch die Aufmerksamkeit von Fachleuten auf dem Gebiet der Säuglingspflege und der kindlichen Entwicklung auf sich gezogen, die die Vorteile einer frühen Kommunikation über Bedürfnisse und Empfindungen betonen. Dass sich der Weg des TöpfchenTeamworks wirklich positiv auf die Entwicklung deines Babys auswirken kann, zeigt auch eine aktuelle Studie von Geist und Bammer-Zimmer (2023), die die Effekte von frühzeitigem „TöpfchenTeamwork“ und Windelfrei untersucht. Bei der Durchführung der Studie wurde herausgefunden, dass eine erhöhte Zeit ohne Windeln eine sicherere Toilettennutzung früher etablieren könne und dass diese Methode zusammen mit der Verwendung von Stoffwindeln zu weniger Hautirritationen und einer reguläreren Stuhlgangfrequenz führen würde 7.
Fakt ist: Babys werden nicht mit einer Windel am Po geboren. Und ebenfalls Fakt ist: Die Einwegwindel ist eine Erfindung, die erst Mitte des 20. Jahrhunderts populär wurde – und das auch nicht in allen Teilen der Welt. Ingrid Bauer schreibt dazu in Es geht auch ohne Windeln! (2004): „In weiten Teilen der Welt, wo die westliche Vorstellung von reifebedingter Bereitschaft ganz einfach nicht existiert, wird die natürliche Säuglingspflege [TöpfchenTeamwork] am häufigsten verwendet, um für die Ausscheidungsbedürfnisse eines Babys zu sorgen.“ 8 (s. S. 83f.)
Windelfrei als kulturelles Erbe?
Aber machen wir uns nichts vor: Auch, wenn das TöpfchenTeamwork in den verschiedensten Kulturen weltweit verbreitet ist (teilweise gebe es dafür nicht einmal einen Begriff 9, weil das Abhalten total normal sei; vgl. Bauer, 2004, S. 90), wird die Wegwerfwindel nicht von heute auf morgen verschwinden und alle Eltern auf Windelfrei umsteigen. Dafür war das Marketing der Einwegwindel-Hersteller einfach viel zu effizient und hat damit etwas die Natürlichkeit des Kinderkriegens aus den Köpfen der (vornehmlich westlichen) Bevölkerung verdrängt.
Zudem werden diese oftmals von Empfehlungen verschiedener Experten und auch Kinderärzten gestützt, welche vielmals annehmen, Babys haben erst mit zunehmendem Alter (gerne wird 18 Monate als „magische Zahl“ genannt) eine Kontrolle über Blase und Schließmuskel.
Diese Annahme, dass Babys Urin und Kot unkontrolliert abgeben, wurde jedoch längst wissenschaftlich widerlegt. Eine Studie von Yeung et al. (1995) zeigt, dass das normale Säuglingsblase stabil ist und eine nahezu vollständige Entleerung erfolgt. Die Studie widerlegt die Vorstellung eines vollständig uninhibierten Blasensystems bei Säuglingen (Yeung et al., 1995).10
Interessant ist übrigens auch, dass die meisten „Experten und Kritiker“ in Sachen Windelfrei und Mutter-Kind-Beziehungen vornehmlich männlich erscheinen…oder?🤨
Du überlegst, mit deinem Mini ins TöpfchenTeamwork einzusteigen oder ihr rockt Windelfrei sogar vielleicht schon? Dann hat dir dieser Artikel hoffentlich gefallen und dir vor Augen geführt, dass du nicht die einzige Windelfrei-Family auf dieser Welt hast – auch, wenn es sich manchmal wohl so anfühlen mag.
Windelfrei ist also keine moderne Bewegung; es ist ein Erbe, das in vielen Kulturen auf der ganzen Welt seit Jahrhunderten praktiziert wird. Diese Praktiken zeigen, dass die Bedürfnisse von Babys universell sind und dass die Kommunikation darüber auf natürliche und liebevolle Weise erfolgen kann – auch schon ab Geburt.
Verfasserin: Vanessa Deckwer
Dr. Britta Alps
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Quellen
1Open-crotch pants URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Open-crotch_pants#cite_note-NYT_2003_story-1 [29.04.2024]
2Wang, X. Z., Wen, Y. B., Shang, X. P., Wang, Y. H., Li, Y. W., Li, T. F., Li, S. L., Yang, J., Liu, Y. J., Lou, X. P., Zhou, W., Li, X., Zhang, J. J., Song, C. P., Jorgensen, C. S., Rittig, S., Bauer, S., Mosiello, G., Wang, Q. W., & Wen, J. G. (2019). The influence of delayed elimination communication on the prevalence of primary nocturnal enuresis—a survey from Mainland China. Neurourology and Urodynamics, 38(5), 1423–1429. https://doi.org/10.1002/nau.24002 [29.04.2024]
3 Boucke, Laurie: TopfFit! Der natürliche Weg mit oder ohne Windeln. Leipzig, 2012: S. 94ff.
4Bauer, Ingrid: Es geht auch ohne Windeln! Der sanfte Weg zur natürlichen Babypflege, 10. Auflage, München: Kösel-Verlag, 2004: S.86f.
5Bauer, Ingrid: Es geht auch ohne Windeln! Der sanfte Weg zur natürlichen Babypflege, 10. Auflage, München: Kösel-Verlag, 2004: S.83ff.
6 Bauer, Ingrid: Es geht auch ohne Windeln! Der sanfte Weg zur natürlichen Babypflege, 10. Auflage, München: Kösel-Verlag, 2004
7 Geist, Barbara Katharina, & Bammer-Zimmer, Roswitha. (2023). Effects of Early Toilet Training and Elimination Communication With Respect to Diaper Types. *Clinical Pediatrics (Phila)*, 62(8), 901-907. https://doi.org/10.1177/00099228221145268 [06.05.2024]
8 Bauer, Ingrid: Es geht auch ohne Windeln! Der sanfte Weg zur natürlichen Babypflege, 10. Auflage, München: Kösel-Verlag, 2004: S.83f
9 vgl. Bauer, Ingrid: Es geht auch ohne Windeln! Der sanfte Weg zur natürlichen Babypflege, 10. Auflage, München: Kösel-Verlag, 2004: S.90.
10 Yeung, C. K., Godley, M. L., Ho, C. K., Ransley, P. G., Duffy, P. G., Chen, C. N., & Li, A. K. (1995). Some new insights into bladder function in infancy. British Journal of Urology, 76(2), 235-240. doi:10.1111/j.1464-410x.1995.tb07682.x. URL: Some new insights into bladder function in infancy – PubMed (nih.gov) [06.05.2024]